Der Preis der Abwesenheit

Menschen mit grossem Abstand voneinander
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"Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass. Es ist Abwesenheit." – Jesper Juul

Einleitung: Wenn du körperlich da bist, aber emotional fehlst

„Alles gut, Papa?“ Diese Frage kam ganz beiläufig von meinem Sohn, als ich gedankenverloren am Tisch saß, das Handy noch halb in der Hand, den Kopf noch bei einem Problem aus dem Büro. Ich antwortete „Klar!“, aber er schaute mich lange an – so als würde er merken, dass meine Antwort nicht stimmte. Diese Momente haben mich wachgerüttelt. Denn ich war da – aber nicht wirklich da.

Emotionale Abwesenheit bedeutet, dass du zwar physisch anwesend bist, aber innerlich weit weg: mit dem Kopf in der Zukunft, bei Problemen, Aufgaben, dem nächsten To-do. Gerade wir Männer tappen oft in diese Falle. Wir wollen stark sein, alles schaffen, für die Familie sorgen – und verlieren dabei die Verbindung zum Moment.

Laut dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul ist das Gegenteil von Liebe nicht Hass, sondern Abwesenheit. Diese Aussage trifft mitten ins Herz: Nicht lautstarke Konflikte, sondern das stille Fehlen von echter Zuwendung hinterlässt die tiefsten Spuren – bei Partnern, bei Kindern, bei uns selbst.

Psychologin Susan David beschreibt emotionale Präsenz als „die Fähigkeit, die eigenen Gefühle wahrzunehmen, zu akzeptieren und anderen Menschen gegenüber offen zu bleiben.“ Studien zeigen, dass Eltern, die emotional präsent sind, langfristig stabilere Bindungen zu ihren Kindern aufbauen und deren emotionale Intelligenz fördern (vgl. Harvard Graduate School of Education, 2019).

Ich schreibe diesen Text nicht als Therapeut, sondern als jemand, der selbst in dieser Spannung lebt. Als beruflich engagierter Vater mit zwei Söhnen im Grundschulalter kenne ich die Herausforderung, am Abend umzuschalten. Aber genau dort beginnt Veränderung – in der ehrlichen Auseinandersetzung mit unserer eigenen Abwesenheit.

„Man kann nicht nicht kommunizieren.“ – Paul Watzlawick. Und genau deshalb sagt selbst unser Schweigen etwas aus. Die Frage ist nur: Was?
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Was ist emotionale Abwesenheit? Ursachen und Auswirkungen im Alltag

Abwesenheit ist mehr als das Fehlen von Zeit. Sie ist das Nicht-Sehen, das Nicht-Hören, das Nicht-Fühlen – obwohl man körperlich anwesend ist. Emotional abwesend zu sein bedeutet, dass man mit dem Kopf in der Vergangenheit oder Zukunft steckt, während das Jetzt unbemerkt vorbeizieht.

Der Psychologe Daniel Goleman, Autor von Emotionale Intelligenz, beschreibt emotionale Abwesenheit als mangelnde Wahrnehmung der eigenen Gefühle – und als daraus folgende Unfähigkeit, echte Verbindung mit anderen Menschen herzustellen. Besonders in engen Beziehungen kann dies wie ein unsichtbarer Nebel wirken, der die Wärme zwischen zwei Menschen dämpft.

Ein klassisches Beispiel: Du sitzt mit deiner Familie am Esstisch. Du nickst, lachst vielleicht sogar – aber innerlich denkst du an den morgigen Termin, an offene Mails, an die Steuer. Dein Körper ist da, doch dein Geist ist woanders. Diese Diskrepanz wird – vor allem von Kindern – intuitiv wahrgenommen.

Ich habe das selbst oft erlebt. Gerade abends, wenn der Arbeitstag noch nachwirkt. Meine Kinder erzählen mir etwas, und ich ertappe mich dabei, wie ich automatisch antworte – ohne zu wissen, was sie eigentlich gesagt haben. Diese kleinen Momente summieren sich. Und irgendwann fragen sie nicht mehr.

Laut einer Studie der Universität Rochester (2020) wirkt sich emotionale Abwesenheit von Bezugspersonen negativ auf das Stresslevel von Kindern aus. Kinder entwickeln stärkere Stresssymptome, wenn sie regelmäßig das Gefühl haben, nicht wirklich gesehen oder gehört zu werden. Die emotionale Präsenz der Eltern wirkt hingegen wie ein Puffer gegen den Alltagsstress.

Auch in Freundschaften oder im Beruf zeigt sich emotionale Abwesenheit: Gespräche bleiben oberflächlich, Nähe wird vermieden, echte Resonanz fehlt. Menschen berichten oft von einem diffusen Gefühl der Leere – obwohl objektiv „alles okay“ scheint.

„Liebe ist die aktive Sorge um das Leben und die Entwicklung dessen, was wir lieben.“ – Erich Fromm

Und diese aktive Sorge beginnt nicht mit großen Gesten, sondern mit einem Blick. Einer Pause. Einer echten Frage wie: Wie geht es dir – wirklich?


Berufliche Abwesenheit: Wenn Effizienz echte Verbindung verhindert

Im Job gilt oft: Sei schnell, sei sachlich, sei lösungsorientiert. In Meetings geht es um Ergebnisse, nicht um Gefühle. In E-Mails um Fakten, nicht um Menschen. Wir sind getrimmt auf Performance – aber verlieren dabei oft das Verbindende. Die Folge? Oberflächliche Beziehungen im Team, sinkende Motivation und ein Gefühl von innerer Leere, trotz hoher Produktivität.

Ein typisches Beispiel zeigt sich in Projektmeetings: Der Fokus liegt oft auf Deadlines, Statusberichten und Zahlen – die menschliche Ebene bleibt außen vor. Wenn jemand persönliche Bedenken äußert oder spürbar zurückhaltend wirkt, wird das häufig übergangen, weil es nicht zur Agenda passt. Dabei wäre genau hier der Moment für echte Führung und Verbindung.

Der Soziologe Hartmut Rosa spricht in seinem Werk Resonanz von der „stummen Welt“: einer Welt, in der nichts mehr zu uns spricht, weil wir aufgehört haben, in Beziehung zu treten – mit Menschen, mit Aufgaben, mit uns selbst. Und genau das passiert in überoptimierten Arbeitskontexten: Wir funktionieren, aber wir resonieren nicht mehr.

Eine Studie der Stanford University (2021) zeigt, dass Teams mit hoher emotionaler Präsenz (z. B. durch aktive Kommunikation, Empathie und echtes Zuhören) nicht nur leistungsfähiger sind, sondern auch resilienter in Krisen. Präsenz am Arbeitsplatz ist also kein Kuschelfaktor, sondern ein Wettbewerbsfaktor.

Besonders als Führungskraft ist emotionale Anwesenheit entscheidend. Mitarbeiter spüren sofort, ob du wirklich da bist – oder nur körperlich im Raum sitzt. Präsenz schafft Vertrauen. Vertrauen schafft Leistung.

„Die größten Probleme in der Kommunikation entstehen dadurch, dass wir nicht zuhören, um zu verstehen – sondern um zu antworten.“ – Stephen R. Covey

Vielleicht beginnt der Wandel mit einer einfachen Frage im nächsten Gespräch: Wie geht es dir wirklich – und was brauchst du heute von mir?


Abwesenheit in der Partnerschaft: Wenn Beziehung zur To-do-Liste wird

In vielen Partnerschaften wächst mit der Zeit eine stille Distanz. Der Alltag wird zur To-do-Liste: Wer bringt die Kinder? Wer kauft ein? Wer macht was am Wochenende? Gespräche drehen sich um Organisation – nicht um Verbindung. Die emotionale Intimität schwindet langsam, oft unbemerkt.

Eine Untersuchung des Gottman Institute (USA), das seit Jahrzehnten Paare erforscht, zeigt: Nicht Konflikte, sondern Gleichgültigkeit ist der häufigste Trennungsgrund. Emotionale Abwesenheit führt zu einem Gefühl von Einsamkeit in der Zweisamkeit – einem der belastendsten emotionalen Zustände überhaupt.

Typisches Beispiel: Ein Paar sitzt abends nebeneinander auf dem Sofa, beide scrollen durch ihre Handys. Kein Streit, kein Drama – aber auch keine Nähe. Die gemeinsame Zeit existiert, doch sie wird nicht gemeinsam erlebt.

Laut Paartherapeutin Esther Perel ist die größte Herausforderung moderner Beziehungen nicht das Fehlen von Zeit, sondern das Fehlen von qualitativer Präsenz. Sie schreibt: „Man kann jeden Tag neben jemandem schlafen und sich doch einsam fühlen. Was zählt, ist, ob man sich wirklich gesehen und gehört fühlt.“

Eine einfache Praxis kann helfen, diese Muster zu durchbrechen: das bewusste Einchecken. Ein tägliches 5-Minuten-Gespräch ohne Ablenkung – mit der Frage: Wie war dein Tag – wirklich? Diese kleine Geste signalisiert: Ich sehe dich. Ich bin bei dir.

Auch Studien aus der positiven Psychologie bestätigen: Paare, die regelmäßig Momente echter Achtsamkeit füreinander schaffen, berichten von höherer Beziehungszufriedenheit und emotionaler Stabilität (vgl. Fredrickson, 2013).

„Wenn ein Mensch spricht, hört ein anderer oft nur sich selbst.“ – Carl Rogers

Präsenz beginnt dort, wo wir aufhören, zu reagieren – und anfangen, wirklich zuzuhören.

„Wenn ein Mensch spricht, hört ein anderer oft nur sich selbst.“ – Carl Rogers

Abwesenheit als Vater: Wenn dein Kind dich anschaut – und du nicht da bist

Kinder spüren alles. Auch das, was nicht ausgesprochen wird. Sie registrieren feinste Veränderungen in Mimik, Stimme und Haltung – lange bevor sie Worte dafür haben. Wenn du also zwar mit ihnen im Raum bist, aber mit deinen Gedanken ganz woanders, spüren sie das. Und ziehen sich innerlich zurück.

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul betont, dass Kinder vor allem durch die emotionale Verfügbarkeit der Eltern lernen, sich selbst als wertvoll zu erleben. Es ist nicht die Anzahl der gemeinsamen Stunden, sondern die Qualität der Begegnung, die prägt.

Ein Vater, der abends müde nach Hause kommt, aber sich bewusst zehn Minuten auf Augenhöhe mit seinem Kind begibt – ohne Handy, ohne Eile, mit echtem Interesse – hinterlässt mehr Eindruck als jemand, der den ganzen Nachmittag anwesend war, aber innerlich abgelenkt.

Laut einer Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (2017) entwickeln Kinder, die regelmäßig emotionale Präsenz und Resonanz erleben, ein höheres Selbstwertgefühl, mehr Empathie und stärkere soziale Kompetenzen. Präsenz ist also kein Luxus – sie ist Grundlage für gesunde Entwicklung.

Ein einfaches Ritual kann helfen: jeden Abend eine bewusste Frage an dein Kind, wie z. B. Was war heute schön für dich? – ohne zu analysieren, ohne zu bewerten, einfach nur hören. Diese Momente wirken – oft über Jahre hinweg.

„Ein Kind verzeiht viel. Aber es vergisst nie, wie es sich bei dir gefühlt hat.“ – Zeitwolf

Abwesenheit als Vater ist keine Frage der Zeit – sondern eine der inneren Haltung. Und diese Haltung kannst du jeden Tag neu wählen.


Häufige Denkfehler über Präsenz – und wie du sie überwindest

Viele von uns halten sich für präsent – aber verwechseln das mit körperlicher Anwesenheit. Es sind nicht nur äußere Umstände, sondern vor allem Denkfehler, die uns in Abwesenheit halten. Hier drei der häufigsten – und wie du sie durchbrechen kannst:

Fehler 1: „Ich bin doch da“
→ Wir verwechseln physische Anwesenheit mit emotionaler Präsenz. Nur weil du im Raum bist, heißt das nicht, dass du wirklich verbunden bist.
Ausweg: Präsenz zeigt sich in kleinen Gesten: Augenkontakt, echtes Zuhören, ein Moment des Innehaltens. Studien aus der Achtsamkeitsforschung (u. a. Kabat-Zinn, 2003) zeigen, dass bewusste Präsenz in Gesprächen messbar positive Auswirkungen auf Beziehungen hat.

Fehler 2: „Ich kann nicht alles“
→ Dieser Gedanke ist menschlich – aber oft eine Ausrede. Präsenz verlangt keine Perfektion, sondern Absicht.
Ausweg: Sag bewusst Nein zur Multitasking-Mentalität. Psychologen wie Cal Newport betonen, dass „Deep Work“ – also tiefe Konzentration – nicht nur für die Arbeit, sondern auch für Beziehungen entscheidend ist. Präsenz beginnt mit Fokus.

Fehler 3: „Das merkt doch keiner“
→ Doch. Vor allem Kinder und Partner:innen spüren genau, ob du wirklich bei ihnen bist. Emotionale Verfügbarkeit ist kein Geheimnis – sie wird intuitiv wahrgenommen.
Ausweg: Stelle dir jeden Abend eine einfache Frage: Wem war ich heute wirklich zugewandt? Diese Reflexion schärft dein Bewusstsein und hilft, neue Muster zu etablieren.

„Die Qualität deiner Aufmerksamkeit bestimmt die Qualität deiner Beziehungen.“ – John Gottman

Der Präsenz-Check: Ein 3-Minuten-Ritual für mehr Bewusstheit

Ein Abendritual, das dich zurückholt. Dauer: 3 Minuten. Kein Aufwand, keine spirituellen Vorkenntnisse – nur ein Moment der Rückverbindung mit dir selbst und deinen Beziehungen.

  1. Stell dir drei Fragen – schriftlich oder gedanklich:
    • Wem war ich heute wirklich präsent?
    • Wann war ich heute abgelenkt – und warum?
    • Wem möchte ich morgen präsenter begegnen?
  2. Atme bewusst für eine Minute. Schließe die Augen, lege eine Hand auf deinen Bauch und spüre einfach deinen Atem. Studien zeigen, dass diese Art bewusster Atmung das Nervensystem reguliert und die Selbstwahrnehmung stärkt (vgl. z. B. Harvard Health Publishing, 2019).
  3. Visualisiere eine präsente Begegnung am nächsten Tag. Stelle dir lebhaft vor, wie du einem geliebten Menschen in die Augen schaust, zuhörst, bei ihm bist. Dieser mentale Vorgriff erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass du genau so handelst – durch das Prinzip der mentalen Vorbereitung (vgl. Gollwitzer, Implementation Intentions, 1999).

Dieses Ritual dauert weniger Zeit als das Scrollen durch Instagram – aber bringt dich dorthin zurück, wo Verbindung entsteht: ins Jetzt.

„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion.“ – Viktor E. Frankl
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Photo by Brad Neathery / Unsplash

Abwesenheit von dir selbst: Wenn du dich innerlich verlierst

Du kannst gleichzeitig im Beruf glänzen, ein guter Partner und engagierter Vater sein – und dich dennoch innerlich leer fühlen. Diese Art der Selbstentfremdung ist tückisch, weil sie sich nicht durch offensichtliche Symptome zeigt. Sie ist subtil – ein latentes Gefühl, dass du „funktionierst“, aber nicht mehr lebst.

Psychologen wie Carl Jung beschrieben dieses Phänomen als "Verlust des Selbst" – ein Zustand, in dem wir nur noch auf äußere Anforderungen reagieren und dabei den Kontakt zu unseren eigenen Bedürfnissen und Gefühlen verlieren. In der modernen Welt – geprägt von Reizüberflutung, Selbstoptimierung und Dauerverfügbarkeit – ist diese innere Abwesenheit fast schon normalisiert.

Ich kenne diesen Zustand gut. Gerade in Zeiten hoher beruflicher Belastung schien es mir einfacher, meine Bedürfnisse zurückzustellen, als innezuhalten. Doch je länger ich das tat, desto schwerer fiel es mir, zu spüren, was ich eigentlich brauchte. Die Folge war Gereiztheit, emotionale Erschöpfung – und ein Gefühl von innerer Distanz zu mir selbst.

Eine Studie der American Psychological Association (2020) belegt, dass über 75 % der befragten Berufstätigen angaben, sich regelmäßig "emotional ausgelaugt" zu fühlen – ohne genau sagen zu können, warum. Ein zentrales Muster: der Verlust von Selbstkontakt.

Was hilft? Der erste Schritt ist Selbstbeobachtung. Nicht, um dich zu verurteilen – sondern um dich wiederzufinden. Achtsamkeitsübungen, Journaling oder auch kurze, stille Momente ohne Ablenkung helfen dabei, wieder bei dir selbst anzukommen.

„Wer sich selbst verliert, hat niemanden mehr, der zurückrufen kann.“ – Zeitwolf

Die Rückkehr zu dir selbst ist kein Sprint. Sie beginnt mit einem Blick nach innen – und dem Mut, wahrzunehmen, was da ist. Auch wenn’s wehtut.

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Photo by Balkouras Nicos / Unsplash

Warum Männer besonders betroffen sind: Männlichkeit und emotionale Abwesenheit

Unsere Gesellschaft prägt Männer seit Generationen durch Leistungsdenken, emotionale Zurückhaltung und den Mythos von Unabhängigkeit. Gefühle zeigen? Schwäche. Hilfe annehmen? Unmännlich. Diese überholten Rollenbilder wirken bis heute – subtil, aber wirkungsvoll. Und sie machen es Männern besonders schwer, sich emotional zu zeigen oder sich selbst in der Tiefe wahrzunehmen.

Der Soziologe R.W. Connell beschreibt in ihrer Theorie der „hegemonialen Männlichkeit“, dass männliche Identität häufig über Abgrenzung definiert wird: gegen Schwäche, gegen Bedürftigkeit, gegen emotionale Offenheit. Männer lernen, dass sie dann „richtig“ sind, wenn sie funktionieren, leisten, schützen – aber nicht fühlen.

Studien zeigen, dass Männer seltener emotionale Unterstützung suchen und ein höheres Risiko für Depressionen haben – gerade weil sie gelernt haben, ihre inneren Zustände zu verdrängen (vgl. Mahalik et al., 2003, Journal of Counseling Psychology). Diese emotionale Abwesenheit beginnt nicht in der Vaterschaft oder Partnerschaft – sie wird oft schon in der Kindheit eingeübt.

Auch in der Popkultur sehen wir das Muster immer wieder: Helden sind stark, schweigsam, effektiv. Verletzlichkeit kommt selten vor – oder wird mit einem schnellen Comeback überdeckt. Doch echte Präsenz erfordert etwas anderes: das Zulassen von Unsicherheit, das Aushalten von Nähe, das Anerkennen eigener Grenzen.

„Die größte Tapferkeit besteht nicht im Kampf gegen andere, sondern im mutigen Blick nach innen.“ – unbekannt

Emotionale Präsenz ist kein Widerspruch zu Männlichkeit. Sie ist der nächste Entwicklungsschritt – nicht als Schwäche, sondern als Kraft.


Kollektive Abwesenheit: Wie unsere Gesellschaft Verbindung verlernt

Unsere persönliche Abwesenheit ist kein Einzelfall. Sie spiegelt ein größeres gesellschaftliches Phänomen wider: den Verlust von Präsenz in einer Welt der ständigen Ablenkung. Immer erreichbar, immer informiert – aber selten wirklich verbunden. Soziale Medien, Dauerkommunikation und Optimierungswahn erzeugen eine Kultur, in der äußere Aufmerksamkeit das Innenleben ersetzt.

Der Soziologe Sherry Turkle spricht in ihrem Buch Reclaiming Conversation von einer „Kultur der Abwesenheit“ – geprägt durch digitale Dauerpräsenz und gleichzeitige emotionale Entkopplung. Menschen kommunizieren permanent, aber fühlen sich einsamer denn je. Die Fähigkeit zu echter, tiefgehender Begegnung geht verloren.

Eine repräsentative Studie der Techniker Krankenkasse (2022) zeigt, dass über 60 % der Befragten das Gefühl haben, in Gesprächen oft nicht wirklich gehört oder gesehen zu werden – obwohl sie im Alltag viel kommunizieren. Die Symptome der kollektiven Abwesenheit sind deutlich: Erschöpfung, Entfremdung, ein wachsendes Bedürfnis nach Rückzug.

Auch in Institutionen wie Schulen, Unternehmen oder Gesundheitssystemen zeigt sich dieses Muster. Prozesse dominieren über Beziehungen. Zahlen über Menschen. Effizienz über Empathie. Das Ergebnis ist eine Welt, in der wir zunehmend nebeneinander leben – anstatt miteinander.

Aber: Verbindung lässt sich lernen. Und sie beginnt bei uns selbst. Präsenz ist nicht nur ein individueller Zustand, sondern ein gesellschaftliches Angebot – an Nähe, an Mitgefühl, an Menschlichkeit.

„Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.“ – Mahatma Gandhi

Präsenz durch Selbstmitgefühl: Der erste Schritt zurück zu dir

Es ist leicht, sich für die eigene Abwesenheit zu verurteilen. Gerade wer reflektiert und Verantwortung übernimmt, fällt schnell in die Falle von Selbstkritik. Doch Verurteilung bringt keine Verbindung – sie verstärkt nur den inneren Abstand. Der Weg zurück zu echter Präsenz beginnt nicht mit Disziplin, sondern mit Mitgefühl für sich selbst.

Die Psychologin Kristin Neff, eine der führenden Forscherinnen zum Thema Selbstmitgefühl, beschreibt es als „die Fähigkeit, sich selbst mit der gleichen Freundlichkeit und Fürsorge zu begegnen, wie man es einem geliebten Menschen gegenüber tun würde.“ Studien zeigen, dass Menschen mit hohem Selbstmitgefühl emotional stabiler sind, weniger unter Stress leiden und resilienter mit Rückschlägen umgehen (vgl. Neff & Germer, 2013).

Selbstmitgefühl bedeutet nicht Nachsicht oder Ausrede – sondern Präsenz mit dem, was gerade ist. Es bedeutet, den eigenen Schmerz zu spüren, ohne sich darin zu verlieren. Den eigenen Fehler zu sehen, ohne sich dafür zu beschämen. Und sich selbst zu halten, so wie man ein Kind halten würde, das sich verlaufen hat.

Ein konkreter Einstieg: Nimm dir jeden Abend einen Moment und frage dich: Wo war ich heute hart zu mir selbst – und warum? Dann antworte mit dem Satz: Es ist okay. Ich lerne gerade, präsenter zu sein. Diese kleine Geste kann der Beginn einer neuen Beziehung zu dir selbst sein.

„Präsenz beginnt nicht mit Selbstoptimierung – sondern mit der Erlaubnis, menschlich zu sein.“ – Zeitwolf

Frage für heute Abend:
Was würde ein präsenterer Umgang mit mir selbst morgen verändern?


Fazit: Warum echte Präsenz die neue Superkraft ist

In einer Welt voller Ablenkung ist Anwesenheit einfach – Präsenz eine Entscheidung. Es ist leicht, den Tag zu überstehen. Leicht, Termine zu erfüllen, Aufgaben zu erledigen, Erwartungen zu entsprechen. Doch echte Verbindung – mit anderen und mit dir selbst – entsteht nicht durch Effizienz. Sie entsteht durch bewusstes Dasein.

Ich habe auf diesem Weg viele schmerzhafte, aber heilsame Lektionen gelernt. Zum Beispiel den Moment, als mein Sohn mir eine Zeichnung zeigte – voller Stolz – und ich reflexhaft nur „Schön!“ sagte, ohne hinzuschauen. Sein Blick in diesem Moment hat mir mehr über meine Abwesenheit gesagt als tausend Bücher. Es war ein stiller Weckruf. Heute nehme ich mir bewusst Zeit, schaue hin, frage nach – und merke: Es ist nie zu spät, um neu zu beginnen.

Präsenz ist nichts, was man „erledigt“. Es ist eine tägliche Entscheidung. Ein Muskel, der durch Übung wächst. Ein Geschenk, das sich erst beim Geben entfaltet.

„Man kann nichts im Außen verändern, ohne sich im Innern zu bewegen.“ – unbekannt

Wenn du heute nur eines mitnimmst: Du musst nicht perfekt präsent sein. Aber du kannst ehrlich präsent sein. Und das verändert alles.

Willkommen bei dir.
Willkommen bei Zeitwolf.


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